Richtige „Knappheit“ gab es in der Vergangenheit selten. Knappe Güter waren meistens teuer und der Markt regelte Angebot und Nachfrage. Mit Beginn der Corona-Krise begegnete uns die erste reale Knappheit seit Jahrzehnten im Supermarkt am Hygienepapierregal. Ursache war die unbegründete Befürchtung der Konsumenten vor einer möglichen Knappheit, der viele Käufer durch „Hamsterkäufe“ begegneten und in der Folge die Regale leerräumten. Sodann rationierte der Handel die Abgabe, wodurch sich die Hamsterkäufer in ihrem Handeln bestätigt sahen. Glücklicherweise entspannte sich die Situation wieder - aber mit Beginn des Kriegs in der Ukraine erleben wir ein Déjà-vu. Der Unterschied zu damals, das wurde schnell klar, ist aber eine tatsächliche Knappheit, die zu leeren Mehl- und Ölregalen führt. Welche Parallelen drängen sich beim Thema Energie auf? Strom lässt sich bekanntlich nicht speichern und Erdgas nur bedingt. Das Pendant zum „häuslichen Vorrat“ ist in diesem Fall das Terminmarktprodukt, wie es an der EEX veröffentlicht und gehandelt wird. Mit dem Nachteil, dass sich dieses Produkt nach dem Kauf nicht physisch in der eigenen Vorratskammer befindet, sondern bis zum Zeitpunkt der Lieferung virtuell auf Erfüllung durch den Handelspartner bzw. Lieferanten wartet.
Wer sich in den vergangenen Monaten regelmäßig in den „Termin-Regalen“ der EEX umgeschaut hat, konnte feststellen, dass das Angebot nicht nur dramatisch teurer, sondern auch dünner geworden ist. Die Gründe dafür sind unterschiedlich, z. B. die Befürchtungen der Anbieter, dass die von ihnen bestellte Ware nicht mehr pünktlich zur Lieferung ankommt und dann anderweitig noch teurer nachbeschafft werden muss, dazu die hohen Sicherheitsforderungen (margins), die im Handel bedient werden müssen oder die Befürchtung, dass der Kunde die teure Ware nicht mehr abnehmen kann, weil er nicht zuletzt durch die extreme Energiekostensteigerung insolvent werden könnte und er das Produkt im worst-case nach Eintritt einer nicht auszuschließenden Wirtschaftskrise mit hohem Verlust anders verkaufen muss.
Hauptursache für diese Entwicklung ist der immer realistischere Gaslieferstopp für russisches Erdgas, der jeden Tag wahrscheinlicher wird, je länger dieser schreckliche und brutale Krieg dauert. Dabei ist der Markt extrem nervös und ängstlich. Die neue Schlagzeile vom russischen Lieferstopp für Polen und Bulgarien, die sich angeblich geweigert haben, ihre Gasrechnungen in Rubel zu bezahlen, ließen die Erdgaspreise in erster Reaktion um 20 % steigen. Erst nachdem bekannt wurde, dass die Lieferung nach Polen sowieso zum Jahresende ausläuft und durch norwegisches Gas ersetzt werden soll und Bulgarien in Kürze über eine neue Leitung durch Griechenland Gas aus Aserbaidschan beziehen könnte, beruhigten sich die Preise anschließend wieder. Jetzt wird mit Spannung auf die Fälligkeit der April-rechnungen der meisten deutschen Importeure am 20. Mai gewartet. Die Gazprom Bank hat bereits Zahlungen für kleinere Erdgaslieferungen der Gazprom Marketing & Trading nach Deutschland und Österreich zurückgewiesen. Uniper und OMV eröffnen gerade nach Handelsblattrecherche ein Konto bei der Gazprom Bank. Polen und Bulgarien waren nicht dazu bereit. Der Knackpunkt ist nach unserem Verständnis die Frage, ob die Gazprom Bank selbst die Konvertierung von Euro in Rubel bei der sanktionierten russischen Zentralbank durchführen darf (so die Ansicht hierzulande) oder ob der Gasimporteur diese durchführen muss (so die russische Sichtweise) und damit gegen EU-Sanktionen verstößt. Es wird also ein spannender Mai!
Dem Markt wird zudem klar, dass dieses „nicht-russische“ Gas, das z. B. Polen und Bulgarien jetzt beziehen wollen, dann aber auch keinen anderen Marktteilnehmern mehr zur Verfügung steht und die Knappheit steigt. Diese Gemengelage mündet nicht nur in eine ausgeprägte Zurückhaltung der Lieferanten bei neuen Angeboten. Dazu, und das macht die Situation immer kritischer, zeigt sich eine weitere brisante Entwicklung im Schatten der vordergründigen Ereignisse: Die galoppierende Entwicklung der Energiepreise der weiter entfernt liegenden Jahre. Wer sich die Entwicklung der Terminpreise ab 2024 ansieht, dem dürfte angst und bange werden: 30 bis 50 % Preissteigerung je nach Kalenderjahr im letzten Monat, wobei die vorderen Jahre beim Strom die größten Preissprünge gemacht haben, beim Erdgas in etwa die gleiche Steigerung, jedoch mit umgekehrten Vorzeichen: besonders die hinteren Jahre haben deutlich zugelegt und schließen auf.
Wie man es dreht und wendet, es wird deutlich, dass das russische Erdgas in Europa nicht kurzfristig, aber auch nicht mittelfristig ersetzt werden kann, ohne die ganze Statik des globalen Erdgasmarktes zu verändern und im schlimmsten Fall einzureißen, wobei Deutschland aufgrund seines hohen Bedarfs und der Pipelineabhängigkeit besonders betroffen ist. Die Frage lautet also, wie können die gewaltigen Mengen an russischen Energieimporten, auch Kohle und Öl, ersetzt werden? Langfristig durch die Abkehr von fossilen Energieträgern - es gibt kein größeres Förderprogramm für Energieeffizienz und Erneuerbare Energien als das aktuelle Energiepreisniveau. Kurzfristig könnte durch einen von der Politik befürchteten Swap (quasi ein „Ringtausch“) zumindest eine nicht unbedeutende Entlastung eintreten: Russland verkauft einen Großteil seiner für Europa vorgesehenen Energieprodukte günstig an Abnehmer, die sich dem Sanktionsregime gegen Russland nicht angeschlossen haben und diese verkaufen ihre Bestellungen bzw. Lieferungen aus Katar & Co nach Europa. Das würde die Sanktionen gegen Russland zwar unterminieren, aber solange China und Indien sich diesen nicht anschließen, wird es vermutlich viele Lecks geben, die erst mühsam identifiziert und geschlossen werden müssen. Vorsorglich gehen erste Warnungen seitens der EU und Deutschlands in Richtung China.
Unterdessen überlegt die Bundesregierung ein Preisanpassungsrecht bei verminderten Gasimporten im Rahmen der Novelle des Energiesicherheitsgesetzes (EnSiG) vorzusehen. Bei einer Gasmangellage sollen nach Informationen des Branchendienstes energate die Versorger die Preise entlang der Lieferketten auf ein angemessenes Niveau anpassen können, die Kunden hätten aber ein Sonderkündigungsrecht. Wir erlauben uns die Frage, wer in Berlin auf solche Ideen kommt und wundern uns, dass der BDEW Beifall klatscht. Energierechtler schütteln zu Recht den Kopf, auch weil der betreffende Absatz im Gesetz viele Fragen offenlässt. ecotec unterbreitet einen Gegenvorschlag: Der Erdgaspreis (Beschaffung) wird im Jahr 2023 auf 40 €/MWh gedeckelt, der Strompreis auf 80 €/MWh – für alle Verbraucher ohne Ausnahme. Das entspricht in etwa einer Verdopplung des Preises von 2019 bis 2021. Wer günstiger eingekauft hat, behält seinen Vorteil, wer teurer eingekauft hat, dessen Mehrkosten übernimmt der Staat. Im Jahr 2024 könnte das Pärchen 60 bzw. 100 €/MWh lauten usw. Das ließe sich einfach umsetzen, der Kunde zahlt seinen Anteil und den überschüssigen Anteil stellen die Versorger Finanzminister Lindner in Rechnung, ggf. wird ein „Sondervermögen“ eingerichtet und mit der „Erneuerbaren-Rendite“ ab 2045 getilgt. Damit hätte man klare Leitplanken und würde Sicherheit in den Markt zurückbringen – besonders die Industrie würde Zeit für den komplexen Transformationsprozess gewinnen. Natürlich bleiben viele Details zu bedenken und zu regeln, aber alles was bislang in der Diskussion ist, führt zu Verunsicherung und Chaos. Pragmatische und verständliche Ansätze sind also gefragt.
Im Ergebnis bleibt aus Sicht des Gasmarktes zu hoffen, dass das Gasembargo nicht umgesetzt wird, da es vermutlich zu Notierungen führen würde, die nicht mehr realistisch sind - der Markt könnte kollabieren. An dieser Stelle zollen wir der Regierung Respekt für ihre bisherige Standhaftigkeit. Langfristig muss die Transformation zu den Erneuerbaren so schnell wie möglich umgesetzt werden. – vVerlieren Sie keine Zeit, die Kapazitäten werden auch in diesem Segment, - man muss es leider wieder so sagen, - knapp. In der Zwischenzeit müssen wir lernen mit den hohen und volatilen Energiepreisen - ggf. auch mit Versorgungsengpässen - umzugehen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich die Industrielandschaft in Deutschland schneller ändert als es bisher für denkbar gehalten wurde. Hoffen wir dennoch vor allem auf ein schnelles Ende des Krieges in der Ukraine und bleiben für die Zukunft optimistisch!